In den Anfängen der Individualastrologie stellte man sich eine zentrale Frage: Sollte der Moment der Geburt oder der der Empfängnis als wahrer Anfang des Lebens gelten – und somit als astrologischer Ausgangspunkt? Um Letzteren zu berechnen, entwickelten antike Astrologen verschiedene Methoden. Eine der frühesten war die sogenannte Petosiris-Regel, basierend auf der Formel:
Empfängnismond = Geburtsaszendent / Empfängnisaszendent = Geburtsmond
Im Mittelalter wurde diese Methode unter dem Namen Trutina Hermetis bekannt.
Was ist die Trutina Hermetis?
Die Trutina Hermetis, auch „Hermetische Waage“ genannt, ist ein astrologisches Konzept, das auf Hermes Trismegistos zurückgeht – eine legendäre Figur, die Elemente des ägyptischen Gottes Thot und des griechischen Hermes vereint. Bei dieser Methode versucht man, ausgehend vom bekannten Geburtszeitpunkt, ein Empfängnishoroskop zu rekonstruieren. Dabei werden Mondstand, Sonnenstand und Aszendent zueinander in Beziehung gesetzt.
Herkunft und historische Entwicklung
Die Ursprünge der Empfängnishoroskopie reichen zurück bis in die Frühzeit der Individualastrologie, als sich babylonische Himmelsdeutung mit griechischer Wissenschaft verband. Das älteste bekannte Konzeptionshoroskop stammt aus dem Jahr 258 v. Chr. – in Keilschrift überliefert und babylonischen Ursprungs.
In der späteren hellenistischen Astrologie finden sich Hinweise auf ähnliche Methoden bei Vettius Valens und Hephaistion. Im Mittelalter übernahm Abraham Ibn Ezra (1089–1167) eine zentrale Rolle in der Weitergabe des Konzepts. In seinem Werk Sefer ha-Moladot beschreibt er die Methode als moznei ḥanok („Henochs Waage“) – ein Synonym für die Trutina Hermetis.
Er stützte sich dabei u. a. auf:
- Pseudo-Ptolemaios (Centiloquium, Aphorismus 51),
- Vettius Valens (2. Jahrhundert),
- Mashallah ibn Athari (8. Jahrhundert),
- al-Biruni (10. Jahrhundert).
Diese Einflüsse zeigen, wie sich griechisch-römische, jüdische und arabisch-islamische Denktraditionen in dieser astrologischen Methode vereinen. Ohne diesen kontinuierlichen kulturellen Austausch wäre die Astrologie nicht zu einer so vielfältigen und differenzierten Wissenschaft herangewachsen.
Verwendung der Trutina Hermetis – und ihre Grenzen
Obwohl die Trutina Hermetis heute oft mit der Geburtszeitkorrektur assoziiert wird, wurde sie ursprünglich nicht zu diesem Zweck entwickelt. Ihre Anwendung setzt eine konstante Schwangerschaftsdauer von 273 Tagen voraus – wie sie im antiken Verständnis als „normal“ galt.
Das führt jedoch zu Problemen: Bei Früh- oder Spätgeburten liefert die Methode keine verlässlichen Ergebnisse. Diese Unsicherheit macht sie zu einem unzuverlässigen Werkzeug, insbesondere zur exakten astrologischen Zeitbestimmung der Geburt.
Kritik aus der Antike – zwischen Spekulation und Spiritualität
Von Beginn an galt die Methode als spekulativ. Schon in der Antike wurde kritisiert, dass sich der exakte Moment der Empfängnis nicht zuverlässig bestimmen lasse – zu vage seien die Grundlagen, zu abhängig von theoretischen Annahmen statt messbaren Daten.
Die meisten Belege für die Anwendung stammen aus literarischen Quellen – philosophisch oder medizinisch geprägte Texte, die zeigen, dass die Trutina Hermetis oft diskutiert, aber selten praktisch angewendet wurde. Auch in der Renaissance wurde sie eher als theoretisches Werkzeug betrachtet denn als handfestes Prognoseinstrument.
Kosmos und Seele: Spirituelle Deutungen der Empfängnis
Trotz der methodischen Zweifel offenbart die Trutina Hermetis einen bemerkenswerten Aspekt früher astrologischer Weltbilder: Schon in der Antike wurde dem ungeborenen Kind eine eigene Seele zugeschrieben – eine Seele, die im Mutterleib durch die Sterne geformt werde und von Anfang an mit dem Kosmos und seiner Ordnung verbunden sei.
Ptolemäus und die astrologische Debatte
Der bedeutende Astrologe Ptolemäus ging ausführlich auf die Empfängnishoroskopie ein. Zwar erkannte er den theoretischen Reiz solcher Methoden an, sprach sich jedoch letztlich für den Geburtsmoment als verlässlicheren astrologischen Ausgangspunkt aus. Seine Begründung: Das Geburtshoroskop spiegele den kosmischen Zustand zum Zeitpunkt der Empfängnis bereits wider – eine zusätzliche Rückrechnung sei daher unnötig und spekulativ.
Fazit: Zwischen Rechenmodell und Weltanschauung
Die Trutina Hermetis ist mehr als ein historisches Rechenmodell. Sie steht für ein tief verwurzeltes Bedürfnis, den Menschen in einer göttlichen, harmonischen Ordnung zu verorten – eine Ordnung, die bereits vor der Geburt beginnt. Auch wenn sie heute kaum noch praktisch genutzt wird, bleibt sie ein faszinierendes Zeugnis astrologischer Denktradition – und ein Spiegel früherer Vorstellungen über Seele, Schicksal und Ursprung des Lebens.

Abb.(erstellt von B. v. Borstel): Die Methode geht davon aus, dass die Mondstellung im Geburtshoroskop (Radix) der Stellung des Aszendenten zum Zeitpunkt der Empfängnis entspricht und der Aszendent der Geburt der Mondstellung der Empfängnis - im Grunde also ein Austausch der beiden Faktoren. Der Aszendent gilt als der individuellste Punkt eines Horoskops, da er den Moment und Ort der Geburt präzise widerspiegelt, und der Mond ist ein zentraler Zeitgeber während der Schwangerschaft und steht allgemein für Fruchtbarkeit, Wachstum und zyklische Prozesse – etwa den Monatszyklus der Frau, der mit dem Mondrhythmus eng verbunden ist.
Anhand bestimmter Regeln und Berechnungen wurde der Moment vor der Geburt bestimmt, an dem Aszendent und Mond etwa 273 Tage vor der Geburt die Plätze tauschten. Oft ist das Ergebnis erstaunlich genau.
Nicht immer jedoch führen diese Methoden zu einem klaren oder befriedigenden Ergebnis. Das kann verschiedene Ursachen haben – etwa eine ungenaue Geburtszeit, eine ungewöhnlich lange oder kurze Schwangerschaft oder die methodischen Grenzen der Technik selbst.

